
Zu weiteren Projektmodulen:
Lese-Performance Traumbilder eines Grönlandwals
Zyklus MIT FEDER, LUFT & LINSE UNTERWEGS
Artikel auf der Initiative DAS SPRECH
Ein Langlebe-Meeressäuger schwimmt auf und träumt vor
Was wäre, wenn es eine unentdeckte Unterart des Grönlandwals gäbe, welche „KEDUBE“ hieße und die imstande wäre, Zukunftsvisionen menschlicher Kreativität vorzuträumen? Es ist Frühsommer 2024: Walter Kreuz ist vom Grönlandwal, dem Wesen mit höchster Lebenserwartung unter allen Säugetieren, so begeistert, dass daraus ein Text entsteht, der wie ein Film zu fließen beginnt. Darin sind es zehn Bilder, die der Meeresriese schwimmend durchträumt – oder besser, zehn lyrische Momentaufnahmen zu „Suffizienz„, zum Gespür für das eigentlich Notwendige, das gerademal Ausreichende.
Evelyn Blumenau hat, von den Tonalitäten des Grönlandwals inspiriert, bereits zwei Jahre zuvor ihre Stimme spielen lassen und Paraphrasen auf Walgesänge der Nordmeere komponiert. Dieses Tonwerk mit dem Titel „Moment der Eigenprägung“ gibt schließlich den Ausschlag: Wenn also eine „KEDUBE“ existierte, die sich auf intensive Weise lautmalerisch einbringt, dann müßte die KEDUBE-Erzählung auf ganz einzigartige Weise festgehalten werden. Der Autor greift zu Tinte, Tusche, Papier, Faden, Holz & Co und bringt seinen Text – die „Traumbilder eines Grönlandwals“ – in einem sechswöchigen Akt in Buchform. Buch plus Tonwerk plus gecko art-Duo plus Inszenierung ergeben dann ab Oktober 2024 die Synergie: eine mobile Leseperformance.

Federschrift, rauhes Papier, Bindfaden, Farbe, Holz und Leim …
… waren die wichtigsten Mittel, um den 86seitigen Grönlandwal-Text in ein künstlerisches 30×40 cm-Buchformat zu bringen. Im Herstellungsprozess wurden Schrift und Materialien zu „Verbündeten“ der Erzählung. Der Gebrauch der Feder entwickelt dabei mitunter eine Eigendynamik und Strich-Choreografie im teils abrupten Wechsel zwischen Schreibart, Wortstreifen, Illustrationen und Umrandung. Verarbeitet wurden u.a. aquarelliertes Zellstoffpapier, Tinte, Tusche, Acrylfarben, Ölfarben, Blattgold, Blattkupfer, Bindfaden, Bergkristall, Segelleinen, Karton, Pappelholz. Beim Zusammenfügen der Teile kam ein spezielles Leimverfahren mit Spannschnüren zur Anwendung.
Zehn Traumbilder und zehn Ausgangspositionen …
… für Möglichkeitsformen einer gelebten Zukunft schweben KEDUBE vor, während sie im sanften Wellenspiel Grönland umrundet, wobei es zu denkwürdigen Aug in Aug-Begegnungen mit grönländischen Fischern kommt, bei denen alle Harpunen in den Halftern bleiben und wodurch die Traumbildern weiterlaufen können. Und am Ende der Erzählung lässt KEDUBE eine freudige Botschaft verlauten, die mit einer Insel am anderen Ende der Welt zusammenhängt. Ihr Name ist Rarotonga. Mehr soll dazu nicht verraten werden. Stattdessen werfen wir einen Blick in die Kapitel von KEDUBES Träumen.

Traumbild eins / DER EINSTIEG IN DIE PERMANENTE BESCHREIBUNG DER WELT
Das Jahr zweitausendund-[rrr:ts]-unddreißig steht im Zeichen der SPRACHE
(…) An allen Ecken und Enden – auf Plätzen, an Häuserfassaden entlang, durch die Schluchten der Straßen, an Fluss- und Seeufern, über Felder, Wiesen, bewaldete Hügel, unterwegs auf eigenen Füßen, mitunter von helfenden Händen gerollt oder getragen – bewegen sich Sprech- und Gehgemeinschaften. Es ist der Einstieg in eine Suche, die so alt ist wie die Menschheit selbst (…)
Traumbild zwei / MUT ZUR SCHWÄCHE UND DAS MENSCHLICHE FESTIVAL
Das Jahr zweitausendund-[schbbbb]-undvierzig steht im Zeichen des TANZES
(…) Menschen können – oder können nun wieder – schwach sein, auch wenn sie damit an den Grundfesten der Evolution nagen. Menschen sind vielmehr die Ausnahme: Sie können auch den nicht-fitten Individuen unter ihnen ein würdiges Leben ermöglichen. Deshalb kann das Herumirren in dieser Welt und das Zweifeln an ihr und an sich selbst getrost tänzerische Formen annehmen (…)
Traumbild drei / DIE ZEIT UND IHRE STÜCKE
Das Jahr zweitausendund-[zzzz]-undfünfzig steht im Zeichen des DOPPELKEGELS
(…) Das Ausloten des Gegenwartspunkts gelingt am besten in einer Art Freeze-Position. Man wähnt sich an der unendlich kurzen Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft – und versucht, diese Scheide der Zeit zu spüren. Der Gegenwartspunkt ist gleichzeitig die Spitze eines Kegels der Vergangenheit und der tiefste Ort eines Trichters der Zukunft. (…)
Traumbild vier / DAS WARTEN UND DIE BEWARTUNG
Das Jahr zweitausendund-[frst]-undsechzig steht im Zeichen der DINGE
Besonders in Hochkulturen, ihren Festungen und ihren Städten wehrte man sich gegen jeden Versuch einer Synchronisation mit den Dingen und beschleunigte deren Lauf zu einem Rennen, mit dem die Zeit nicht mehr schritthalten konnte. Gruppen bewarten die Wucht von Schreckensmeldungen, das Fett der Schlagzeilen, die Autorität der Bilder und die vage Angst, die sie zu verbreiten trachten (…)
Traumbild fünf / WIE LEBEN, OHNE MINDESTENS EINMAL AM TAG … ?
Das Jahr zweitausendund-[ggbm]-undsiebzig steht im Zeichen des LEEREN SPIEGELS
(…) Wie also leben? Wie leben können, wie den Chianti Classico in der schlanken Tulpe halten, wie das Glas erheben, wenn sich Stimmen erheben und zukunftshungrige – und hungrige – Menschen im vermeintlichen Anderswo die Triebe des Reichtums zur Zündung bringen? Wie leben können, wie die Angebotspalette erlernen und evident halten, bevor jegliches Bedürfnis entsteht (…)
Traumbild sechs / DAS UR-LAUB oder EINE FANTASTISCHE SUCHE
Das Jahr zweitausendund-[kbmm]-undachtzig steht im Zeichen des MILLIMETERS
(…) Man will einfach nicht mehr zur Economy- oder Charter-Sardine schrumpfen und an den dümmlich inszenierten Kabinenritualen der Luftfahrt teilnehmen. Die Falschwelten der Airports dieser Welt konnten sie einfach nicht mehr übertünchen. Denn der Ruf der Ferne ertönt sehr wohl auch aus unmittelbarer Nähe. Das Ur-Laub stellt diesem Lockruf der Ferne die Zuflüsterung der Nähe entgegen (…)
Traumbild sieben / STIMMEN UNTER STERNEN
Das Jahr zweitausendund-[qwtp]-undneunzig steht im Zeichen des POETISCHEN FIRMAMENTS
(…) Höchste Zeit, um Nächte rund um den Globus zu tönenden Zeitbögen des Schreibens und Sprechens auszurufen. Eine Wolkenlosigkeit am Tag steigert die Vorfreude auf den Lichtwechsel der Dämmerung und weckt die Poetinnen und Poeten in den Menschen. Man improvisiert oder liest seine Texte in die Sternenpracht hinauf. Man flüstert, brummt, brüllt, rapt, zischt (…)

Traumbild acht / DIE KUNST DES TRANSPORTIERENS
Das Jahr zweitausendeinhundertund-[rkrk] steht im Zeichen eines NICHT ENDEN WOLLENDEN WEGE-NETZES
(…) Transporte werden allemal zu Performances, die von Trommlerinnen und Trommlern begleitet werden. An ihren hohen Hüten sind sie von weitem auf den Straßen, Gassen, Wegen erkennbar, auf denen kunstvoll festgezurrte Dinge weiterbewegt werden. Man zieht oder schiebt sie auf zwei- bis vierrädrigen Karren oder Schlitten, trägt sie auf Pritschen oder Sänften, bewegt sie Schritt für Schritt durch den Raum (…)
Traumbild neun / MIT FEDER, LUFT & LINSE UNTERWEGS (*)
Das Jahr zweitausendeinhundertund-[gtgt]-undzwanzig steht im Zeichen der MÖGLICHKEITSFORMEN
(…) Ist Wasser der Schlüssel zum Bewusstsein? Um Festland-Überlagerungszustände auszutesten, braucht es nicht jedesmal große Hallen für aufwendige Experimente. Die Möglichkeitsform der Zeit schreit förmlich nach ihrer ressourcenschonenden Erprobung. Die Menschen wollen in einer Atmosphäre der Leichtigkeit und Freude spekulieren (…)
Traumbild zehn / GRENZENLOSES SCHÖPFERISCHES WUMMERN
Das Jahr zweitausendeinhundertund-[piupiu]-unddreißig steht im Zeichen des SINFONISCHEN DENKENS
(…) Es ist, als spielte man bei einer Sinfonie mit, deren Orchestergröße unüberschaubar ist und sich wohl um den gesamten Erdball zieht. Alle, die daran beteiligt sind, vereint ein Moment, den sie zu verschiedenen Zeiten durchlaufen haben – nämlich der Moment vor jeglicher Zustimmung, Willfährigkeit und Zugehörigkeit (…)
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(*) Die Überschrift des neunten Traumbilds im Buch – MIT FEDER, LUFT & LINSE UNTERWEGS – wurde auch zum Titel des Projektzyklus 2025, welcher Buch und Performance um „künstlerische Ausschwärmungen“ erweitert. Das Buch-Unikat begleitet die Lesenden bei ihren Performance-Auftritten und bietet Besucher:innen und Interessierten ein haptisches Leseerlebnis. Buchberührungen (wie sie in Bibliotheken ständig stattfinden) oder typische Geräusche des Blätterns (die an die Lebendigkeit des Papiers erinnern) ereignen sich an einem Buchexemplar, das es nur ein einziges Mal gibt. In diesem Sinne sind alle eingeladen, den Codex Kedube als eine von vielen möglichen Kunstformen für Text-Unikate kennenzulernen.